Der Reaktor

Am 26. April 1986 unterlief den Mitarbeitern im Kontrollraum des Reaktorblocks #4 im Atomkraftwerk Tschernobyl eine Reihe von Fehlern. Um 1:23 Uhr nachts kam es daraufhin zu einer folgenschweren Explosion. Sie verursachte eine Kernschmelze, die ein Feuer auslöste, das zehn Tage brannte. Der radioaktive Niederschlag verseuchte mehr als 100.000 Quadratkilometer des umliegenden Landes und vertrieb über eine Viertelmillion Menschen für immer aus ihrer Heimat. Auch heute überschattet die Katastrophe von Tschernobyl noch immer das Leben der Menschen und die Umwelt in der ganzen Region.

Heute liegt das zerstörte Atomkraftwerk Tschernobyl inmitten einer gesicherten Sperrzone von 4 300 Quadratkilometern. Hochradioaktive Reste des zerstörten Reaktors schwelen nach wie vor im Inneren des sogenannten Sarkophags, einer Beton- und Stahlverkleidung, die hastig nach dem Unfall errichtet wurde. Die Konstruktion, die nur als Übergangslösung geplant war, weist Risse auf und ist brüchig geworden. Experten gehen davon aus, dass sie irgendwann zusammenbrechen wird. Dabei könnte genug radioaktive Strahlung freigesetzt werden, um eine erneute Katastrophe noch größeren Ausmaßes zu verursachen. Seit Jahren wird verzweifelt daran gearbeitet, den Sarkophag abzustützen und so zu verhindern, dass sein Dach einbricht. Neue Gerüste und Stützbalken wurden angebracht, um die altersschwachen Teile der sich bereits neigenden Westwand zu stabilisieren.

„Der allmähliche Abbau bürokratischer Barrieren in der Ukraine ermöglichte es mir, 2005 weitaus tiefer in das Innere des zerstörten Reaktors vorzudringen als je ein anderer westlicher Fotograf. Nachdem ich meine übliche Schutzkleidung und einen drei bis vier Millimeter dicken Plastikoverall angelegt und mich mit einem Geigerzähler und Dosimeter ausgerüstet hatte, folgte ich einer Gruppe von sechs Arbeitern in die Höhle des Ungeheuers. Die Arbeiter, deren Aufgabe darin bestand, Löcher für riesige Stahlmasten in den Beton zu fräsen, um so das Dach zu stabilisieren, trugen zusätzlich Gasmasken und Sauerstoffflaschen. Sie hatten es eilig. Die Strahlung dort ist so hoch, dass unser Aufenthalt trotz unserer Schutzkleidung auf nur 15 Minuten pro Tag beschränkt war.

Es war die größte fotografische Herausforderung, die ich jemals erlebt habe. Die Umgebung war dunkel, laut und verursachte Angst und Beklemmung; wir eilten durch spärlich beleuchtete Tunnel, übersät mit Kabeln, zerfetzten Metallteilen und undefinierbarem Schutt. Ich bemühte mich, nicht zu stolpern. Während ich fotografierte, musste ich dem radioaktiv verseuchten Staub und dem Funkenregen ausweichen, die beim Fräsen entstanden. Der Adrenalinschub war unglaublich, denn ich wusste, dass ich weniger als 15 Minuten Zeit hatte, um eindringliche Bilder in einem Bereich zu machen, den nur wenige jemals gesehen haben und zu dem ich wohl nie wieder Zugang haben würde. Noch angespannter wurde die Situation dadurch, dass nach der Hälfte der erlaubten Zeit alle unsere Geigerzähler und Dosimeter zu piepen begannen – ein unheimliches kakofonisches Konzert, das uns signalisierte, dass unsere Zeit ablief. Hin- und hergerissen zwischen meinem Ãœberlebensinstinkt und meinem Drang als Fotograf, länger zu bleiben, war es eine immense Herausforderung, konzentriert, effizient und schnell zu arbeiten, ohne in Hektik zu verfallen.”

– Gerd Ludwig

Nach langjährigen Verhandlungen wurde ein französisches Konsortium mit dem Bau einer neuen Schutzhülle beauftragt, deren Kosten auf 1,5 Milliarden Euro geschätzt werden. Eine bogenförmige, 29.000 Tonnen schwere Metallkonstruktion soll mit einer Höhe von 105 Metern und einer Spannweite von 257 Metern über den schon bestehenden Sarkophag geschoben werden, um den Abbruch des zerbröckelnden Reaktorbaus zu ermöglichen. Dieser zweite Sarkophag soll auch die 200 Tonnen geschmolzener nuklearer Brennstäbe umschließen und so die Welt vor den tödlichen Überresten schützen. Der Termin für die Fertigstellung der neuen Schutzhülle wurde mehrfach verschoben.

Am 26. April 1986 lösten Mitarbeiter im Kontrollraum von Reaktorblock #4 eine Kernschmelze aus

Am 26. April 1986 unterlief Mitarbeitern in diesem Kontrollraum des Reaktors #4 im Kernkraftwerk von Tschernobyl eine Reihe von Fehlern. Sie verursachten eine Kernschmelze, die zum größten atomaren Unfall in der Geschichte führte. [Atomkraftwerk Tschernobyl, Ukraine 2011]

Arbeiter in Schutzkleidung im Inneren des Reaktors

Mit Atemschutzgeräten und Plastikmasken ausgestattete Arbeiter können auf ihrem Weg ins Innere des Reaktors, um Löcher für Stahlmasten in den Sarkophag zu fräsen, nur kurz innehalten. Ihre Arbeit ist gefährlich: die Strahlung ist so hoch, dass sie ständig ihre Geigerzähler und Dosimeter im Auge behalten müssen. Sie dürfen nur 15 Minuten am Tag dort verbringen. [Atomkraftwerk Tschernobyl, Ukraine 2005]

Eine rostige Uhr in einem Raum im Reaktor #4 zeigt die Zeit der Explosion am 26. April 1986

Am 26. April 1986 um 1:23:58 morgens zerstörte eine Serie von Explosionen den Reaktor der sich im Gebäude von Reaktorblock #4 im Atomkraftwerk von Tschernobyl befand. Die Gewalt dieser Explosionen brachte die Zeit zum Stillstand: die rostige Uhr in diesem Raum im Reaktor #4 zeigt die Uhrzeit der Explosion an. Beinahe 28 Jahre später ist die Strahlung hier immer noch so hoch, dass der Raum nur für wenige Sekunden betreten werden kann. [Atomkraftwerk Tschernobyl, Ukraine 2013]

Ein obskurer Aufgang erlaubt den Arbeitern einen schnelleren Zugang ins Innere

Obwohl Arbeiter wegen der hohen Strahlungswerte den Reaktor nur für wenige Minuten betreten durften, mussten sie anfangs über gefährliche Leitern in einen Abschnitt mit lebensgefährlicher Verstrahlung unterhalb des geschmolzenen Kerns klettern. Um ihnen den Zugang zu erleichtern, wurde ein obskurer Aufgang errichtet: die so genannte „schiefe Treppe“. [Atomkraftwerk Tschernobyl, Ukraine 2011]

Der erste Abschnitt des New Safe Confinements von den Dächern der nahegelegenen Stadt Prypjat aus gesehen

Von den Dächern der nahe gelegenen Stadt Pripyat aus ist der erste Abschnitt der neuen Schutzhülle sichtbar. Das New Safe Confinement, eine gigantische Metallkonstruktion soll über den schon bestehenden Sarkophag geschoben werden, um den Abbruch des zerbröckelnden Reaktorbaus zu ermöglichen. [Atomkraftwerk Tschernobyl, Ukraine 2013]

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